Zukunftsaufgabe “Inweltschutz” – Rechtssysteme als öffentliche Güter

von  Dr.Hans-Joachim Radisch, Rechtsanwalt in Waren (Müritz)

Die Existenz einer funktionsfähigen Rechtsordnung stellt, wie James Buchanan in “Limits of Liberty” dargestellt hat, für ein Gemeinwesen ein allen zur Verfügung stehendes öffentliches Gut dar. Sie gleicht insofern der durch alle nutzbaren öffentlichen Gartenanlage, dem Dorfanger oder der öffentlichen Wasserversorgung. Wie deren Schaffung und Pflege erfordert die Unterhaltung einer Rechtsordnung nicht nur finanziellen, sondern auch sonstigen gesellschaftlichen Aufwand. Letztlich ist auch der gesamte “Politbetrieb” mit seinen hohen gesellschaftlichen Kosten auf Willensbildung und -betätigung zum Zwecke der Rechtsetzung ausgerichtet. Es kann deshalb der auch volkswirtschaftliche Wert einer Rechtsordnung kaum überschätzt werden, wie auch der Schaden, der durch deren Beschädigungoder gar Verlust für die Gesellschaft eintritt.

Will man ermessen, welche Bedeutung die Rechtsordnung für eine Gesellschaft und die in ihr lebenden Menschen besitzt, muß man sich lediglich vorstellen, es gäbe sie plötzlich nicht mehr. Ab sofort könnte niemand mehr davon ausgehen, seine Mitbürger würden wie bisher für ihn schädigende Verhaltensweisen mit Unterstützung großer Teile seiner Mitmenschen zur Rechenschaft gezogen und in die Schranken gewiesen.

Wir würden damit zurückfallen in einen gesellschaftlichen Urzustand in dem jeder Mensch “der Wolf des anderen Menschen” (Thomas Hobbes) wäre in einem Kampf eines jeden gegen jeden um alles. Niemand könnte länger darauf vertrauen, dass der jeweils andere schon aus Furcht oder Respekt vor einer andernfalls zu erwartenden Racheaktion überlegener – heute polizeilicher und gerichtlicher – Gegenkräfte von Verletzungen seiner körperlichen und besitzmäßigen Integrität Abstand nehmen wird.

Persönliche Freiheit würde in des Wortes engster Bedeutung nur noch soweit gesichert werden können, wie der eigene Arm reicht, vielleicht ausgedehnt um den Wirkungsbereich einer Waffe. Niemand könnte sich selbst seiner Wohnung, seines Hauses oder seines umfriedeten Besitztums während auch nur kurzfristiger persönlicher Abwesenheit sicher sein. Schon die Begegnung mit mehr als einem anderen Menschen müßte als gefährliches potentiell existenzgefährdendes Ereignis erlebt und mit ungewissem Ausgang bewältigt werden. Verglichen mit den so zu beschreibenden gesellschaftlichen Verhältnissen müßten Bürgerkriegsgegenden wie Somalia, Syrien und Afghanistan oder die den Drogenkartellen ausgelieferten Gebiete Mittel- und Südamerikas als Gegenden geradezu paradisischer Sicherheit und Friedens angesehen werden.

Bis sich aus einer solchen in den Urzustand zurückgefallenen Gesellschaft – über zunächst wahrscheinlich mafiotische Ansätze – neue Machtstrukturen mit wenigstens rudimentären Sicherheitsgarantien für ihre Mitglieder – untereinander und gegenüber Außenstehenden – herausgebildet haben würden, vergingen lange Jahre mit viel Blut und Tränen für alle.

Schon diese Überlegung zeigt, welcher überragender Wert der Existenz einer auch nur einigermaßen funktionierenden Rechtsordnung beizumessen ist.

Jede Einschränkung, jede Beschädigung und jede Funktionseinbuße bedeutet für die Mitglieder einer Gesellschaft einen genauso schwer wiedergutzumachenden Schaden wie Umweltschäden an Flora, Fauna und natürlichen Ressourcen.

Es gehört deshalb zu den dringendsten und wichtigsten Aufgaben in den Gesellschaften unseres Planeten, die Augen der Bürger für die eigentlich auf der Hand liegende Erkenntnis zu öffnen, daß auch der Mensch Teil der Natur ist, die im Rahmen des Schutzes einer dabei bislang allein der außerhalb des Menschen gesehenen Umwelt weltweit im Zentrum der Aufmerksamkeit von Politik und Medien steht.

Als in und durch gesellschaftliche Gemeinschaft lebendes “zoon politicon” gehören dabei Regeln des gesellschaftlichen Miteinander zur Natur des Menschen wie Wasser, Licht und Luft. Derartige Regeln und Rechtsysteme sind selbst Bestandteile des für Menschen lebenswichtigen jeweiligen Biotops und bedürfen wie dessen übrige Bestandteile der Aufmerksamkeit, der Pflege und des Schutzes.

Gerade auch in unseren zivilisierten hochentwickelten Gesellschaften dürfen wir nicht den Blick vor der Erkenntnis verschließen, daß Mechanismen und Regeln des Zusammenlebens für den Erhalt des homo sapiens in Kulturlandschaften entwickelter Staaten genauso “artenschützende” Bedeutung haben wie die Stammesriten von Ureinwohnern der Wildnis. Es wäre Hochmut solchen Ureinwohnern gegenüber, deren Regeln des Miteinander nur deshalb als Teil der uns umgebenden natürlichen Umwelt zu achten und zu respektieren, weil wir daran bei ihnen das gleiche abgehobene Interesse auszuleben vermögen wie am Schwänzeltanz der Bienen, den Kommunikationfunktionen von Ameisenstraßen oder den Hochzeitsritualen der Rotbauchunke.

Wir müssen vielmehr verstehen und bei unseren Entscheidungen berücksichtigen, daß allgemein – also auch in entwickelten Gesellschaften wie der unseren – die Komplexität menschlicher Existenz, ihre Einbindung und ihre Funktion als Teil ihrer natürlichen Umwelt in ganz erheblichem Umfang durch die menschgeschaffenen Wechselbeziehungen zwischen den Individuen der menschlichen Gesellschaft bestimmt sind. Die Anpassungsfähigkeit des Menschen an seine jeweilige natürliche Umwelt ist nicht nur den biologischen Eigenschaften seines Körpers zu verdanken, sondern ganz entscheidend der durch seine Kommunikationsfähigkeit eröffneten, ihm natürlichen Fähigkeit zum Zusammenwirken mit seinen Artgenossen über selbstgeschaffene Regeln für derartige Kooperation. Nicht zuletzt diese Regeln befähigen uns zu dem, was wir zum Erhalt der “Umwelt”, also der uns umgebenden Natur, organisieren und sind damit selbst für den Schutz der Umwelt Voraussetzung.

Die überragende Adaptionsfähigkeit an unterschiedlichste Umweltbedingungen in den vielen Jahrtausenden seiner Existenz verdankt der Mensch – auch dieses Bewußtsein muß sich Bahn in den menschlichen Gesellschaften brechen – vor allem auch seiner natürlichen Befähigung zur Schaffung unterschiedlichster Formen und Regeln für Zusammenarbeit und optimierter Arbeitsteilung.

Wie Fauna und Flora in unterschiedlichsten Wechselbeziehungen Biotope unterschiedlichster Prägung und Gestaltung bilden und in diesen in unterschiedlichster Weise durch Einpassung in die jeweiligen Umgebungen evolutionäre Entwicklungsalternativen schaffen, von denen die jeweils tauglichsten als optimale Antwort auf die jeweiligen biologischen Anforderungen den Fortbestand und die Weiterentwicklung der einzelnen Art sichern, erreicht der Mensch dieses Ziel seit Jahrtausenden durch Regelungssysteme für Organisation und Ausgestaltung von Kooperation.

Auch dabei zeigt die Geschichte, daß das biologische Konzept der “Arterhaltung durch Vielfalt” der Anpassungslösungen wegen des natürlichen Ausleseprinzips des “survival of the fittest” auch für den Menschen mit seinem ihm natürlichen Anpassungsinstrument der Gestaltung von menschlicher Kooperation gilt: Gerade die Vielfältigkeit der Ausgestaltung menschlicher Kooperation bot immer wieder benötigte besser angepaßte Lösungen an neue Umstände.

Wirtschafts- wie Kunstgeschichte belegen dabei, daß Menschen und Staaten die höchsten Leistungen erreichten, wenn die Organisation möglichst konfliktfreier Koexistenz von örtlich an die besonderen Gegebenheiten und Traditionen angepaßter Vielfalt von Regelungssystemen gelang. Die Blütezeiten des Römischen Reiches, des britischen Empire oder das Aufblühen des Deutschen Reichs in der Bismarck-Ära sind dafür Beispiele unter vielen. Gerade aus den vielfaltigen gelebten und erfahrenen Rechtsystemen fanden sich dann immer wieder taugliche Lösungen für neuartige Problemstellungen und erhöhten die Robustheit des Gesamtstaates insgesamt. Immer dann, wenn zugunsten umfassender Einheit des Rechtssystems in allen Teilen von Staaten Vielfalt unterdrückt oder aufgegeben wurde, zeigte sich nach kurzer Zeit eine Schwächung des Ganzen durch rechtliche Monokultur bis zum kulturellen Untergang mangels Anpassungsfähigkeit.

Bedenkt man die fundamentale Rolle, die der Organisation des menschlichen Miteinander durch Regeln und Regelungsysteme zukommt, und die Tatsache, daß gesellschaftliche Kooperation Teil der menschlichen Natur und bestimmend für seine Position als Element der Natur in seiner spezifischen Umwelt ist, kann man die Funktionsfähigkeit dieser Regelungssysteme nicht geringer wertschätzen als eine intakte Natur im übrigen.

Zur Kennzeichnung der Gleichwertigkeit zu Umweltschutzbestrebungen hinsichtlich der außerhalb des Menschen befindlichen Natur, sollte man das schwierige und im Detail bislang wenig erforschte Unterfangen des Schutzes der Funktionsfähigkeit menschlicher Regelungsysteme aus Sicht der Gesellschaft deshalb treffend und prägnant als “Inweltschutz” begreifen und bezeichnen. Angesichts der sich gerade abzeichnenden strukturellen Überforderung vor allem der europäischen Rechtssysteme durch die ausufernde EU-Rechtsetzung ist zu vermuten, daß gerade diese Thematik und die Erforschung schädigender wie bewahrender Faktoren für Existenz und Erhalt von Rechtsordnungen in den nächsten Jahren intensivste Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird.

 

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