Überlastung – Der sichere Weg zum schlanken Staat

von Dr. Hans-Joachim Radisch

Nach einem Mechanismus, der vor allem in demokratisch geprägten Staaten seit nahezu hundert Jahren abläuft, erfolgt bei genauerem Hinsehen eine sich ständig verstärkende Überlastung des Staates. Ursache ist die Übernahme von immer mehr ursprünglich privater Aufgaben seiner Bürger verbunden mit einer sich ständig ausweitenden Zuständigkeit des Staates. Die damit einhergehende Überdehnung staatlicher Zuständigkeit führt durch zunehmende Überlastung in Konsequenz zur Schwächung der Wirksamkeit des Staates in seinen immer weiter den ausufernden Aufgabenbereichen. Dieses erfordert zunehmend bürgerlichen Engagement überall dort, wo der Staat schwächelt und versagt.  Dadurch wird das Entstehen neuer außerstaatlicher Machtstrukturen befördert, die den Staat schleichend in immer größerem Umfang entmachten. Es könnte sich bei dieser Entwicklung “gesellschaftlicher Biotope” um die Wirkung eines allgemeinen biologischen Prinzips handeln, wie es aus der Natur  im Zusammenhang mit dem Anwachsen von Populationen bis zu einer kritischen Grenze und ihrer nachfolgenden drastischen Verringerung seit langem bekannt ist.

Dieser Mechanismus staatlicher Entmachtung durch Überdehnung seiner Zuständigkeiten ist von der Existenz demokratischer Strukturen unabhängig. Zwar ist in Demokratien  die Übertragung von immer mehr Aufgaben an den Staat wegen der leichteren Einwirkungsmöglichkeiten von Mehrheiten begünstigter Bürger in Abstimmungen und Wahlen strukturell leichter zu bewerkstelligen, tatsächlich zeigt ein Rückblick jedoch, daß   der beschriebene Mechanismus auch in den gescheiterten deutlich weniger demokratischen sozialistischen Systemen des ehemaligen Ostblocks wirksam war.

Es handelt sich bei diesem Mechanismus um ein leicht nachvollziehbares Phänomen:

Man stelle sich vor, daß Familien für ihre aneinander angrenzenden Einfamilienhausgrundstücke angesichts einer unsicheren Umgebung einen jungen kräftigen Wachmann engagieren, der zu Nacht- und Urlaubszeiten um und über die Grundstücke patrouilliert und schon wegen seiner äußeren Erscheinung und seiner in der Umgebung bekannten gewalttätigen Vorgeschichte Einbrecher von den Grundstücken der Auftraggeber abhält.

Im Laufe der Zeit kommen aber immer mehr Familienmitglieder der Auftraggeber auf den Gedanken, dem nach ihrem Eindruck nur wenig belasteten jungen Mann zusätzliche “nützliche” Aufgaben zu übertragen. Nachdem zunächst schwere Gartenarbeiten, für die der gemeinsame Angestellte wegen seines Körperbaues prädestiniert zu sein schien, hinzukommen, gehen später Aufgaben wie Einkäufe erledigen, Wagenwäschen, allgemeine Putzarbeiten im Haus, Babysitting, Training der heranwachsenden Jugendlichen und Tröstung vereinsamter Hausfrauen auf ihn über.

Der Effekt ist, daß allen Mitgliedern der auftraggebenden Familien das Leben dadurch erleichtert wird, daß sie eigene Aufgaben, die sie bislang selbst erledigten und die sie wegen langer Übung gut beherrschten, nunmehr an den gemeinsamen Angestellten delegieren können.

Natürlich beherrscht dieser die ihm übertragenen Aufgaben anfangs nur schlecht. Schließlich war er dafür weder ausgebildet, noch hatte er in ihrer Bewältigung die den Familienmitgliedern eigene Routine. Mit der Zeit entwickelt er dann aber Verfahrensweisen, durch die er für seine Aufgabenerfüllung gewisse Rationalisierungsvorteile nutzbar macht. Vor allem durch eine geschickte Organisation der bei ihm nun ständig und gehäuft anfallenden Arbeiten, die bislang in jeder Familie nur von Zeit zu Zeit und in geringerem Umfange zu erledigen waren, erreicht er zunächst erkennbare Kostenvorteile für seine Auftraggeber.

Dies bewahrt ihn jedoch nicht vor der Kritik der delegierenden Familienmitglieder, die zwar nicht daran denken, einmal abgegebene Aufgaben wieder an sich zu ziehen, die aber vermehrt mangelndes Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Auftraggeber feststellen, und generelle Mängel bei der Aufgabenbewältigung durch Arbeitsüberlastung und die rationalisierte vereinheitlichende Verfahrensweise.

So ergibt es sich, daß sich im Laufe der Zeit bei den Mitgliedern aller Familien aus der zunächst positiven Grundhaltung vermehrt eine Negativeinstellung gegenüber dem Angestellten entwickelt. Dadurch wird zwar zunächst nicht der als immer unentbehrlicher empfundene Angestellte in Frage gestellt. Es kommt jedoch zu einer deutlichen Verschlechterung der Stimmungslage ihm gegenüber und zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, geringerem Respekt und ständigem Bemängeln des für die Leistungen als unangemessen empfundenen  immer wieder erhöhten Gehaltes.

Ein zunächst unbemerkter Nebeneffekt der neuen Aufgabenfülle des Angestellten ist, daß der Respekt der in der Nachbarschaft Heranwachsenden vor Kraft, körperlicher Überlegenheit und gegebenenfalls zu erwartender Brutalität des Wachmannes in dem Maße schwindet, wie man ihn mit dem Einkaufskorb beim Kauf von Babywindeln, beim Fensterputzen oder beim Verabreichen des Mittagsfläschchens an das Neugeborene einer Auftraggeberfamilie auf der Terrasse beobachten konnte.

In der Folge kommt es zunächst zu Diebstähle von Kirschen und Äpfeln von den Grundstücken der Auftraggeber, dann zu kleineren Sachbeschädigungen wie Graffities an den Hauswänden und Beschädigung von Einfriedungen und Bepflanzungen. Dann werden die von den “Schläger-Kids” der Nachbarschaft bis dahin mit viel Respekt behandelten Kinder der Auftraggeber auf einmal wieder Ziel und Opfer körperlicher Gewalt und selbst Anpöbelungen der erwachsenen Mitglieder der Auftraggeberfamilien setzen ein.

Als dann das Haus einer auftraggebenden Familie mit größtem Vandalismus von Einbrechern heimgesucht und hohe Werte entwendet werden, während der Wachmann in einem der anderen Eigenheime der Auftraggeber seiner abendlichen Tätigkeit als Babysitter nachgeht, wird die Weiterbeschäftigung des bis dahin als unverzichtbar erscheinenden Wachmannes erstmals grundsätzlich in Frage gestellt.

Das Ende der Tätigkeit des Wachmannes erfolgt kurz darauf nach einmütiger Beschlußfassung der Auftraggeber sehr plötzlich, nachdem die Ehefrau und Mutter aus einer der auftraggebenden Familien Opfer einer Vergewaltigung auf der eigenen Terrasse wurde, während der nunmehr schon langjährig beschäftigte Wachmann nachmittags auf einem der Nachbargrundstücke den Rasen mähte.

Inzwischen haben die betroffenen Familien einen neuen Wachmann eingestellt, der nur schwer seine ehemalige Zugehörigkeit zur “Skin-Szene” verleugnen kann. Bei allem latenten Unbehagen, das die auftraggebenden Familien bei seiner Anwesenheit verspüren, ist jedoch der Abschreckungseffekt gegenüber unangenehmen Außenstehenden und damit der Erfolg des Engagements zweifelsfrei.

Nur eines wird als lästig betrachtet: Alle Familienmitglieder müssen ihre ureigensten Aufgaben, sei es Rasenmähen, Schuheputzen oder Babysitting nun wieder selbst wahrnehmen. Und alle Fehler oder Unvollkommenheiten bei der Aufgabenerfüllung, die ja zwangsläufig immer mal vorkommen, werden nun wieder den einzelnen Familienmitgliedern selbst angelastet. Das Schimpfen auf den unfähigen Wachmann nutzt nichts mehr und hat ein plötzliches Ende gefunden. Statt dessen helfen sich die Familien wieder vermehrt gegenseitig bei der Bewältigung ihrer nunmehr wieder ureigensten Aufgaben wie Rasenmähen oder Kinderhüten.

Da sich Kritik nun wieder mehr oder weniger gleichmäßig auf alle verteilt und mit den nicht zu leugnenden häufigen gegenseitigen positiven Erfahrungen der einzelnen Familien und ihrer Mitglieder unausgesprochen verrechnet wird, kommt jeder mit der Kritik der anderen ohne größere Probleme zurecht. In die Rolle des nur noch kritisierten “Buhmannes,” welche dem ersten Wachmann in den letzten Jahren seiner Tätigkeit zugefallen war, gerät nun niemand mehr.

Im Ergebnis übertragen auf einen Staat, der sich vom Nachtwächter zum Wohlfahrtsstaat entwickelt hat, würde die Rückübertragung der wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben auf die Bürger und ihre zivilrechtlichen Organisationen zur Wiedererstarkung des Staates als “Nachtwächterstaat” bedeuten, daß die Bürger durch eine zuvor erfolgte Schwächung des zur Allzuständigkeit “überdehnten” Staates zivile Macht zurückerlangen können.

So erschreckend die zwischenzeitliche Staatsschwächung im Wohlfahrtsstaat sein mag: Gerade diese Selbstschwächung gibt die Hoffnung auf ein “repowering”, auf die Rückübertragung der Macht vom Staat auf seine Bürger.

Vor diesem Hintergrund könnte es für Bürger, die gegen den eigenen Machtverlust in einem ausufernden Wohlfahrtsstaat ankämpfen wollen, empfehlenswert sein, zur Verfahrensweise der Judoka Zuflucht zu nehmen, die den Gegner mit dessen eigenem Schwung zu Fall bringen. Möglicherweise ist es ab einem bestimmten Punkt staatlicher Entwicklung angeraten, das Ausufern der Staatsaufgaben nicht länger zu bekämpfen, sondern die Entwicklung in die erkennbar falsche Richtung sogar zu fördern. Je schneller der Staat in die falsche Richtung der vollständigen Staatswohlfahrt und der völligen Überforderung fortschreitet, je kürzer wird die Phase der totalen Bevormundung des Bürgers und des Niederganges des Staatswesens sein können und desto eher wird es seinen Bürgern gelingen, ihre ureigensten Aufgaben und die zugehörige Macht wieder selbst in die Hand zu bekommen.

Auf diesem Wege könnte ein geradezu natürlich wirkender Prozess einem Ziel dienen, dessen Details vor mehr als zweihundert Jahren ein Wilhelm von Humboldt in seiner grundlegenden Betrachtung “Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen” erstmals als Grundsatzproblem erkannt und fundiert erörtert hat: Das auf das wirklich Wesentliche reduzierte und effiziente Staatswesen, das Ideal liberalen Staatsverständnisses, der “schlanke Staat”.

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